Bd. 1 Nr. 1 (2023): Zeitdokumente
Zeitdokumente

Zeitgenössisches Musiktheater für junges Publikum hat sich seit den Achtzigerjahren zu einem eigenständigen Genre herausgebildet, dessen Vielfalt sich in den dramaturgischen Konzepten, Vermittlungsstrategien, den unterschiedlichen Produktionsweisen und der ästhetischen Bandbreite niedergeschlagen hat. Diese Genese des Musiktheaters wurde in fachspezifischen Gremien durch Aufsätze und bei einer Reihe von Symposien in Form von Tagungsberichten reflektiert, die in dieser Ausgabe erstmals zusammengeführt werden. Bei diesen Zeitdokumenten handelt es sich um Praxisberichte und -erkenntnisse, die in ihren künstlerischen Ansprüchen und politischen Forderungen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Nach einem ersten Symposium zum Kindermusiktheater an der Wiener Staatsoper 2000 (der Beitrag von Gunter Reiß „Die Kinderoper. Geschichte und Repertoire einer widersprüchlichen Gattung“ in der 2. Ausgabe von KLANGAKT entstand für den 2004 erschienenen Tagungsband Kinderoper – eine ästhetische Herausforderung) initiierte das Symposium am Nationaltheater Mannheim eine große Suchbewegung danach, was für ein Musiktheater Kinder brauchen. Die Aufbruchstimmung fand ihren Niederschlag im Mannheimer Manifest (2009) – einem Plädoyer für zeitgenössische Formen, flexible Produktionsstrukturen und Ästhetiken sowie einen erweiterten Vermittlungsbegriff. Es folgten weitere Symposien am Oldenburgischen Staatstheater (Spielzeit 2012/13) zu Fragen des musikalisch-theatralen Erzählens sowie am Nationaltheater Mannheim zur Bedeutung des Hörens (Happy New Ears, 2016). Eine besondere Bedeutung kommt den FRATZ Reflexionen zu – schriftliche Dokumentationen des FRATZ Festivals Berlin, das seit 2015 alle zwei Jahre vom Theater o. N. veranstaltet wird: Internationale Gastspiele präsentieren unterschiedliche Zugänge im Bereich des interdisziplinären Theaters für jüngste Kinder. Es geht um Rezeption, sinnliches Wahrnehmungsverhalten, Begegnungen zwischen Erwachsenen und Kindern, Produktionsweisen und Ästhetiken – inhaltliche, pädagogische und künstlerische Fragen also, die nicht nur für sehr junges Publikum relevant sind.

Theater für junges Publikum bewegt sich immer schon zwischen den Genres und Sparten. Die hier versammelten Zeitdokumente machen eines deutlich: Musiktheater für junges Publikum hat seit den vergangenen zwanzig Jahren originär eigene künstlerische Wege eingeschlagen (Deutscher Bühnenverein Kinder- und Jugendtheater im Wandel 2012), eigene Strukturen und Produktionsweisen herausgebildet und sich zu einem wichtigen Teil kultureller Bildung entwickelt.

Einen Meilenstein für die professionelle Vermittlungsarbeit an öffentlich getragenen Theatern, Opern- und Konzerthäusern stellte das Projekt der Berliner Philharmoniker unter ihrem damaligen Chefdirigenten Sir Simon Rattle dar. Zusammen mit 250 Kindern und Jugendlichen aus 25 Nationen entstand 2003 in sechs Wochen Probenzeit unter der Anleitung des Choreographen und Tanzpädagogen Royston Maldoom eine Aufführung von Igor Strawinskys Ballett Le sacre du printemps. Neben dem vielfach prämierten Dokumentarfilm (2004) Rhythm is it! dokumentiert eine Broschüre das Projekt. Diese Projektdokumentation wurde von Tobias Bleek verfasst, damals freier Mitarbeiter im Projekt, heute Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste und Leiter des Klavier-Festivals Ruhr.

Viele Jahre sind vergangen, in denen sich das Feld der Vermittlung praktisch und theoretisch weiterentwickelt und ausdifferenziert hat. 2021 wurde im Rahmen der 7. Konferenz für Theater-, Musiktheater-, Tanz- und Konzertpädagogik des Deutschen Bühnenvereins Landesverband Mitte ein Mission Statement der Vermittler*innen zum Thema „Wer ist Wir? Zwischen Kulturbetrieb und Stadtgesellschaft" überreicht, das vom erstarkten Selbstbewusstsein der institutionalisierten Vermittler*innen zeugt und in jüngerer Zeit für eine größere Sichtbarkeit des Berufs, der Arbeitsverhältnisse und -praktiken gesorgt hat.