Bd. 1 Nr. 4 (2023): Hören
Hören

„Hören ist wehrlos – ohne Hören“ schrieb der Komponist Helmut Lachenmann 1978 und skizziert damit zentrale Eigenschaften jenes Sinns, den wir in der heutigen Gesellschaft eher vernachlässigen, denn Smartphones und Tablets fordern in erster Linie unsere taktilen und visuellen Sinne heraus. An dieser Hierarchie der Sinne in Philosophie und Wissenschaft hat sich seit der Antike nichts verändert. Und dennoch zeigt sich gerade in der Öffnung des zeitgenössischen Musiktheaters und zeitgenössischer Konzertformate für die performativen Künste, wie sich das Zusammenwirken von visuellen und klanglichen Eindrücken immer wieder neu ausrichtet und im Besonderen durch Speicher, Sende- und Bearbeitungstechnologien neuer Medien ein Wandel der Hörkultur angestoßen wurde.

Dieser ‚acoustic turn’ wurde in den 60er Jahren durch John Cages (1912-1992) aleatorische Kompositionsverfahren und seine Radikalität, mit der er Alltagsklänge zum musikalischen Material seiner Stücke machte, vorangetrieben. Komponisten wie R. Murray Schafer (1933-2021) oder Pierre Schaeffer (1910-1995) forschten zeit ihres Lebens zu akustischen Umgebungen. Im ‚System Soundscape' wird der Vorgang des Wahrnehmens zum Teilnehmen und die Zuhörenden zu Akteur:innen, die ihre Umgebung mitgestalten. Für Schafer steht die Befreiung der Wahrnehmung, im Besonderen des Hörens, für eine „Überwindung gesellschaftlicher Restriktionen“ (Breitsameter 2010, S. 24).

In den letzten 15 Jahren forschten Musikvermittler*innen und Theatermacher*innen im Jungen Musiktheater zum Hörverhalten des Publikums. Unterschiedliche musikalisch-theatrale Erzählformen haben sich seither herausgebildet. Oft verlagert sich das theatrale Erzählen von der Darstellung logisch-kausaler Erzählzusammenhänge auf das Bewusstmachen sinnlicher Wahrnehmungsvorgänge. In beiden Sphären wird eine spezifische und unterschiedliche Qualität des Zuhörens erforderlich. Wie lässt sich das Hören im szenischen Kontext und in der Musikvermittlung eingrenzen und in seiner schwer fassbaren, erlebnishaften Qualität beschreiben?

Obwohl Matthias Rebstock sich in seinem Text auf Kompositionen aus dem Bereich des Musiktheaters für Erwachsene bezieht, lassen sich seine Beobachtungen unmittelbar auf das Junge Musiktheater übertragen, denn die szenische und räumliche Situation einer Musiktheaterperformance beeinflusst das Hören der Zuschauer*innen unmittelbar. Aus diesem Grund plädiert Rebstock dafür, bereits während der künstlerischen Konzeption mit der „Phänomenologie des Sehens und Hörens“ bewusst umzugehen (Rebstock 2016, S. 114). Wie die Perspektive des Hörens im Musiktheater für junges Publikum bereits in der Konzeption mitgedacht und gestaltet werden kann, reflektiert Anselm Dalferth aus seiner inszenatorischen Praxis heraus. Er begreift Hörbares nicht als „Repräsentation von Gedanken oder Objekten“ (Dalferth 2019, S. 12), sondern sieht in der Fokussierung des Hörens „die Suche nach einer Intensivierung von Ereignishaftigkeit und Präsenz“ (ebda.). Auch Johannes Gaudet und Christiane Plank-Baldauf widmen sich in ihrem Beitrag der Sensibilisierung des Hörens. Im Zusammenspiel mit allen anderen Sinneskanälen erweisen sich „Intensität, Wachsamkeit und Präsenz“ als Grundvoraussetzung einer Hörhaltung, die sich offen für die Einmaligkeit von Klängen zeigt. In diesem Zusammenhang weisen Christine Ehardt und Katharina Rost auf die Bedeutung der „Selbstbelauschung“ als wichtiger Teil theaterwissenschaftlichen Arbeitens hin (Ehardt/Rost 2015).

Auch in der Musikpädagogik kommt der Sensibilisierung des Hörens ein besonderer Stellenwert zu. Stefan Roszak arbeitet in seinem Beitrag die Bedeutung des erweiterten Musikbegriffs von John Cage und den Soundwalk Schafers als methodisches Potenzial für die Hörsensibilisierung heraus und beleuchtet nicht nur pädagogische, sondern auch gesellschaftliche und ästhetische Dimensionen.

Verena Lobert erforscht in ihrem Beitrag ein Musiktheaterprojekt, in dem Hören als ästhetische Forschung des Alltags übergeht von pädagogischen Implikationen (z.B. ‚Ohren öffnen‘) in Hören als gestalterisches, künstlerisches Moment. In einem mehrstufigen kollaborativen Prozess zwischen Kita-Kindern und Künstler*innen entstand ein Musiktheater, das sowohl in der Feldforschung in der Kita, als auch im darauffolgenden Stückentwicklungsprozess sowie schließlich in den Aufführungen denselben Suchbewegungen folgt: Die Welt der Geräusche zu erfahren, auszuprobieren und sie hör- und sichtbar zu machen.

Hören als ästhetischer Wahrnehmungsvorgang im Zusammenspiel der Sinne kann vielschichtig wirken. Es ist zentral für ästhetische Erfahrungen, kann als ‚sozialer Sinn‘ Menschen miteinander verbinden und hat ein enormes Bildungspotenzial: Der aktiv hörende Mensch reflektiert seine eigene Wahrnehmung, nimmt sich in Bezug zu seiner Umgebung, Räumlichkeit und Zeitlichkeit wahr und positioniert sich darin. Didaktisch aufbereitete Übungen zum aktiven und gestaltenden Hören gibt es daher seit einigen Jahren in großer Zahl. In dieser Ausgabe wird mit den Beispielen von Maria Meures, Tamara Schmidt und Andrea Welte sowie von Silke Egeler-Wittmann und Matthias Handschick Material vorgestellt, das sich an Ausführende unterschiedlicher Leistungsniveaus und Altersstufen richtet und sich als Grundlage für weitere musikalische Gruppenprozesse eignet.

In unserer Ausgabe über das Hören möchten wir zusätzlich zu den Praxisperspektiven auch Projektbeispiele vorstellen. „Soundwalk. Ein interaktiver Hörspaziergang für Kinder“ wurde 2020 von Katharina Höhne an der Tonhalle Düsseldorf durchgeführt. „ANKLANG – Eine Schule des Hörens für Frankfurter Kinder“ entstand zwischen 2015 und 2022 an der Alten Oper Frankfurt unter der Leitung von Heike Deubel. In BESTIARIUM von der Künstlergruppe Ordnung der Dinge erleben wir einen Klangspaziergang, der partizipativ organisiert ist und eine Geschichte erzählt. Das Projekt entstand 2019 im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Alle drei Beispiele thematisieren das Hören, setzen aber verschiedene Schwerpunkte hinsichtlich der pädagogischen und künstlerischen Gestaltung.